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Mühsam. Kalenderblatt
Gebeugte Menschen mit stumpfem Blick hocken in dumpfen Spelunken den Neid im Auge, die Not im Genick, von elendem Fusel trunken. Da tönt eine Stimme von außen herein: »Kopf hoch! Ihr seid nicht verloren. Ich füll eure Becher mit goldenem Wein. Auch euch ist der Heiland geboren. Heraus ins Freie und folgt mir nach, wo Schätze liegen!« Die Stimme des Mannes, der also sprach, hat plötzlich geschwiegen. Ein Scherge führt ihn gefesselt fort. Den Menschen aber da drinnen klingt seiner Rede lockendes Wort wie ferner Traum in den Sinnen. Sie senken den Kopf auf des Tisches Brett und trinken mit heiserem Lachen … Ein Jude zog aus von Nazareth,…
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Die Tragik des Lebens. Kalenderblatt
Der Briefmark Ein männlicher Briefmark erlebte Was Schönes, bevor er klebte. Er war von einer Prinzessin beleckt. Da war die Liebe in ihm erweckt. Er wollte sie wiederküssen, Da hat er verreisen müssen. So liebte er sie vergebens. Das ist die Tragik des Lebens… Joachim Ringelnatz Joachim Ringelnatz (Hans Gustav Bötticher) starb heute, am 18. November, vor 76 Jahren.
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Wie wenn nichts wäre. Kalenderblatt
Nicht alle Schmerzen sind heilbar Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein, Und während Tage und Jahre verstreichen, Werden sie Stein. Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre, Sie scheinen zerronnen wie Schaum. Doch du spürst ihre lastende Schwere Bis in den Traum. Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle, Die Welt wird ein Blütenmeer. Aber in meinem Herzen ist eine Stelle, Da blüht nichts mehr. Ricarda Huch Ricarda Huch starb heute, am 18. November, vor 63 Jahren.
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Der Marmorknabe
In der Capuletti Vigna graben Gärtner, finden einen Marmorknaben, Meister Simon holen sie herbei, Der entscheide, welcher Gott es sei. Wie den Fund man dem Gelehrten zeigte, Der die graue Wimper forschend neigte, Kniet, ein Kind daneben: Julia, Die den Marmorknaben finden sah. “Welches ist dein süßer Name, Knabe? Steig ans Tageslicht aus deinem Grabe! Eine Fackel trägst du? Bist beschwingt? Amor bist du, der die Herzen zwingt?” Meister Simon, streng das Bild betrachtend, Eines Kindes Worte nicht beachtend, Spricht: “Er löscht die Fackel. Sie verloht. Dieser schöne Jüngling ist der Tod.” Conrad Ferdinand Meyer
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Die wahre Liebe. Kalenderblatt
Auf einer alten Mauer saßen Zwei junge treue Turteltauben, Die, voll von innerlicher Liebe, Die Augen auf einander wandten, Und dann und wann die Flügel zuckten. Ein Sperling auf dem nächsten Dache Voll buhlerischer Brunst und Schalkheit, Hieß dieses Paars verliebte Ruhe, Frost, Schläfrigkeit und Unvermögen. Da sprach der Täuber, doch mit Sanfmuth: Sprich nicht so schlimm von unsrer Liebe. Horch! deine junge Gattin seufzet. Sie heißt dich einen Ungetreuen. Sie, die du gestern erst geehlicht, Wird heute schon von dir verlaßen! Du liebest freylich stark und feurig: Wir lieben sittsam, aber ewig. Nicolaus Götz Heute, am 4. November, vor 229 Jahren starb Nicolaus Götz.
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Notabene. Kalenderblatt
Holt mir Wein in vollen Krügen! (Notabene: Wein vom Sundgau) Und ein Weib soll bei mir liegen! (Notabene: eine Jungfrau) Ewig hängt sie mir am Munde. (Notabene: eine Stunde …) Ach, das Leben lebt sich lyrisch (Notabene: wenn man jung ist), Und es duftet so verführisch (Notabene: wenns kein Dung ist), Ach, wie leicht wird hier erreicht doch (Notabene: ein Vielleicht noch …) Lass die Erde heiss sich drehen! (Notabene: bis sie kalt ist) Deine Liebste sollst du sehen (Notabene: wenn sie alt ist …) Lache, saufe, hure, trabe (Notabene: bis zum Grabe). Klabund Heute, am 4. November, vor 120 Jahren wurde Klabund (Alfred Henschke) geboren. Mit 38 Jahren…
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Verklärter Herbst. Kalenderblatt
Gewaltig endet so das Jahr Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. Rund schweigen Wälder wunderbar Und sind des Einsamen Gefährten. Da sagt der Landmann: Es ist gut. Ihr Abendglocken lang und leise Gebt noch zum Ende frohen Mut. Ein Vogelzug grüßt auf der Reise Es ist der Liebe milde Zeit Im Kahn den blauen Fluß hinunter Wie schön sich Bild an Bildchen reiht Das geht in Ruh und Schweigen unter . Georg Trakl Georg Trakl starb heute, am 3. November, vor 96 Jahren
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Kalenderblatt: Steht noch dahin
Steht noch dahin Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben’s gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin. Heute, am 10. Oktober vor 36 Jahren starb Marie Luise Kaschnitz. Nicht mutig Die Mutigen wissen Daß sie nicht auferstehen Daß kein Fleisch um…
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Kalenderblatt: Menschenherz, was ist dein Glück?
Menschenherz was ist dein Glück? Ein rätselhaft geborner Und, kaum gegrüßt, verlorner, Unwiederholter Augenblick! Nikolaus Lenau starb heute, am 22. August, vor 160 Jahren
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Kalenderblatt: Für die, die mich nicht leiden können
Ihr kriegt mich nicht wieder, Ohnmächtige Tröpfe! Ich komme wieder und wieder, Und meine steigenden Lieder Wachsen begrabend euch über die Köpfe. Nikolaus Lenau Trutz euch Heute, am 13. August, vor 208 Jahren, wurde Nikolaus Lenau geboren