Ich weiß gar nicht, wie alt meine Oma heute geworden wäre*. Irgendwann habe ich das Geburtsjahr vergessen und es gibt auch niemanden mehr, der es mir sagen könnte. Schon länger habe ich vor, einmal auf Ahnensuche mütterlicherseits zu gehen. Das kann ich jetzt als Rentner je einmal angehen.
Egal. Meine Oma ist jedenfalls im vorletzten Jahrhundert geboren. So lange ich sie kannte, trug sie schwarze Kleidung, zuhause den schwarz-weiß gepunkteten Kittel darüber. Wenn sie wegging, dann im schwarzen Kleid. Aber sie ging eigentlich nie weg, höchstens einmal zum Friedhof oder in die Kirche, wo sie dann natürlich bei den Frauen auf der rechten Seite saß und ich bei den Männern auf der linken Seite.
Meine Oma war die liebste Frau, die ich kannte. Mich nannte sie immer „Liebchen“. „Komm mal bei mich, mei Liebche“, sagte sie oft und dann drückte oder küsste sie mich. Von Ihr ließ ich es mir gefallen.
Ich war in den Ferien als Kind immer bei ihr. Einmal, ich war gerade in die Schule gekommen, lebte ich ein dreiviertel Jahr bei ihr. Meine Mutter war im Krankenhaus.
Da lebte mein Opa noch. Er hatte mich abgeholt, aber kurz darauf musste auch er ins Krankenhaus, nach Limburg. Er lag wohl länger da, denn ich erinnere mich, dass wir ein paarmal mit dem Zug dorthin gefahren und dann auf den hohen Berg gelaufen sind, auf dem das Krankenhaus lag. Es stank dort fürchterlich nach Krankenhaus, das war glaube ich damals so. Und ich bekam Malzbier zu trinken. Hat mir nicht geschmeckt.
Mit Opa und Oma habe ich jeden Abend gespielt. Mensch-Ärgere-Dich nicht. Vor allem meine Oma spielte gerne. Sie war eine Meisterin in Dame und Halma. Auch später hat sie mich fast immer geschlagen. Dann freute sie sich diebisch.
Als mein Opa starb, spielten wir nicht mehr. Es war abends furchtbar langweilig. Nach – es kam mir wie nach Jahren vor – fragte ich meine Tante heimlich, ob ich nicht mit Oma wieder spielen könnte. „Um Himmels willen“, sagte sie, „frag sie nur nicht. Dann muss sie an den Opa denken und das macht sie zu traurig“.
Aber ich habe trotzdem gefragt, als meine Tante nicht im Zimmer war. „Natürlich“, hat sie gesagt, und dann haben wir wieder gespielt. „Ach, das war schön“, sagte sie hinterher. „Das habe ich ja schon so lange nicht mehr gemacht. Ich glaube, seit Opa tot ist“. Traurig war sie nicht.
Sie lebte mit ihrem Sohn, seiner Frau und deren Tochter im Haus. Meine Mutter sagte einmal, die Tante würde unter dem Regiment meiner Oma leiden. Davon hatte ich nichts gemerkt. Außer vielleicht, dass Oma immer kochte.
Zu ihrem 70. Geburtstag bekam Oma von Klosterfrau Melissengeist eine große Flasche Klosterfrau geschickt. Mit guten Wünschen. Mein Onkel hatte ihnen geschrieben, dass meine Oma jeden Tag ihr Gläschen trinke. Aber das war Arznei, das musste sie.
Wenn ein schweres Gewitter kam, klappte Oma die Fensterläden zu, zog alle Stecker raus, schaltete das Licht aus und setzte sich mit uns Kindern unter den schweren Küchentisch. Da hatten wir dann fürchterliche Angst, dass der Blitz einschlagen könnte. Zum Glück war Oma dabei.
Als mein Neffe in Darmstadt geboren wurde, holte meine Schwester sie einmal nach Darmstadt. Das war das erste Mal nach vielen, vielen Jahren, dass sie aus ihrem Dorf kam. Als sie mit dem Auto durch ein Nachbardorf kamen, freute sie sich „Ach, hier bin ich noch nie gewesen“.
Nachdem mein Opa gestorben ist, durfte ich bei ihr im Ehebett schlafen. Erst habe ich mich ein bisschen geschämt, aber dann habe ich es gerne gemacht. Sie hatte ihr langes weißes Leinennachthemd an und ließ dann ihre Haare herunter. Sie war wohl nie beim Friseur gewesen, denn ihre Haare fielen in Locken herunter bis zur Erde.
„Meine Oma sieht aus wie ein Engel“, dachte ich.
Wenn es ihr gut ging, setzte sie ich auf die Bank vor das Haus unter die Weinranken. Ab und zu kam eine Nachbarin vorbei. Fritze-Goth oder auch mal Meurersch-Goth. Natürlich auch im schwarzen Kittel. Dann saßen sie eine Zeitlang nebeneinander auf der Bank.
- Nachtrag ein Jahr später: sie wäre genau 130 geworden. Das Bild muss an ihrem 75. Geburtstag aufgenommen worden sein. Die Vorfahren konnte ich inzwischen bis 1650 zurückverfolgen.