Im Dezember 2012 fand in der Gutleutkirche in Frankfurt der letzte Gottesdienst statt. Die Stadt Frankfurt hat das Gebäude gekauft und wird es zu einem Jugendzentrum umbauen. Vor allem ältere Gemeindemitglieder sind sehr betroffen.
Ich habe die „Entwidmung“ der Kirche vorgenommen und dazu die Predigt gehalten:
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Liebe Gemeinde,
„Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt“ – manchmal beginnt eine Predigt mit diesem Friedensgruß aus der Offenbarung des Johannes. Heute soll sie damit beginnen und damit enden. Denn das benötigen wir heute alle ganz besonders:
Gnade für unser Vorhaben, diese Kirche zu verlassen und Friede in unserem Herzen – egal, auf welcher Seite wir stehen.
Denn – wenn ich es recht sehe, gibt es sie ja durchaus. Diese beiden Seiten.
Die Seite derer, die nie im Leben ihre Gutleutkirche geschlossen haben wollten, die vielleicht verbittert sind über den Beschluss des Kirchenvorstandes, noch des alten –vor einigen Jahren schon.
Und die Seite derer, die das nicht so schlimm finden, bezieht die Gemeinde doch morgen ein neues Zentrum im Westhafen.
Beten wir darum, dass Friede in unsere Herzen einzieht. Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Welcher Gedanke sonst könnte über dem Auszug aus einer Kirche stehen als der, dass Gott mit uns zieht.
Der Gott, der lange da war, bevor es die Gutleutkirche gab.
Der Gott, der hier gegenwärtig war in vielen Gottesdiensten und vielen Gesprächen, beim Essen und Trinken in diesem Haus. 54 Jahre, 52 Wochen, das sind weit über 7.000 Gottesdienste, die hier gefeiert wurden.
Der Gott, der – da bin ich sicher – auch gelegentlich im neuen Jugendzentrum, das hier entstehen wird, vorbeischauen wird.
Und der Gott, der ganz gewiss auch mit seinem Geist im Westhafen und in der Matthäuskirche da sein wird.
Ja, der Gott, der gar keine Kirche braucht, um in unsere Herzen zu kommen. Was anderes heißt Advent? Als unsere Herzen neu darauf auszurichten, dass Gott ohne Herberge in die Welt gekommen ist und mit uns wandert durch eine Welt, in der wir alle nur Gäste sind.
Das Bibelwort, unter das ich heute meine Predigt stellen möchte, steht im Evangelium des Lukas 9, 57-62
„Als sie weitergingen, wurde Jesus von einem Mann angesprochen. »Ich will dir folgen, wohin du auch gehst«, sagte er. Jesus erwiderte: »Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihre Nester; aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich ausruhen kann«
Zu einem anderen sagte Jesus: »Folge mir nach!« Er aber antwortete: »Herr, erlaube mir, zuerst noch nach Hause zu gehen und mich um das Begräbnis meines Vaters zu kümmern.« Jesus erwiderte: »Lass die Toten ihre Toten begraben. Du aber geh und verkünde die Botschaft vom Reich Gottes!
Wieder ein anderer sagte: »Ich will dir nachfolgen, Herr; doch erlaube mir, dass ich zuerst noch von meiner Familie Abschied nehme.« Jesus erwiderte: »Wer die Hand an den Pflug legt und dann zurückschaut, ist nicht brauchbar für das Reich Gottes.«
Ein Bibelworte ist das, das mich schon als Jugendlicher beschäftigt hat, weil es mich beim Lesen verstörte.
Wie kann das sein? Wie kann mein Jesus so unbarmherzig reden? Wie kann er so ohne Verständnis für die Menschen sein, die da zu ihm kommen?
Was die Menschen da von ihm wünschen, sind doch keine schlechten Wünsche – ganz im Gegenteil.
Was halten wir von einem, der nicht zur Beerdigung seines Vaters geht – egal wie wichtig das andere ist, was er zu tun hat.
Was ist zu halten von Menschen, die nicht Trauer empfinden und zurückblicken beim Tod eines geliebten Menschen. Und: ja, auch beim Abschied Nehmen von einer geliebten Kirche?
Und schließlich: ist es nicht verständlich, einen Ort haben zu wollen, an dem man sich zuhause fühlt?
„Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen“ – so jauchzt Psalm 84 – wir haben ihn vorhin gebetet – und fährt fort: „Deine Altäre, Herr Zebaoth – Wohl denen, die in deinem Haus wohnen, die loben dich immerdar.
So sind wir Menschen. Auch wenn wir wissen, dass Gott keine festen Häuser braucht: wir brauchen sie – wie der Vogel sein Nest.
Und, nicht wahr, wir können doch froh sein, dass es noch viele Menschen gibt, die ihre Kirchen lieben, die gerne mitsingen: „Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht“.
Wie oft mag dieses Lied hier gesungen worden sein. Wie oft mögen es Menschen als wahr empfunden haben. Auch wenn – nüchtern betrachtet – die Pforte dieser Gutleutkirche wohl nicht die schönste Kirchenpforte ist und dieser Kirchenraum sicher nicht der ästhetischste unter den Gotteshäusern.
Aber im Herzen zählt das nicht. Und dafür bin ich dankbar. Wie Gott sich gerade dem Geringsten zuwendet, wie das Scherflein vor Gott mehr zählt als das größte Fundraising, wie sich Eltern um das gefährdete Kind am meisten sorgen, so gilt die Liebe zu einer Kirche nicht ihrer Größe oder Schönheit.
Die Bewunderung ja. Auch das Staunen. Wenn wir ehrlich sind, das kann Herzen zu Gott hin öffnen. Aber das kann auch geschehen, wenn Menschen in eine kleine Kirche kommen und dort erleben, wie dort eine Gemeinschaft zusammen ist im Beten und Singen, im Hören und Loben. Darauf liegt Gottes Segen und das spüren Menschen.
Ich bin sicher, viele von Ihnen haben das hier erlebt. Viele von Ihnen verbinden die tiefe Erfahrung von erlebter Geschichte mit dieser kleinen Kirche.
Menschen, die nicht mehr unter uns sind, Taufen, Trauungen, mitreißende, manchmal ärgerliche, manchmal langweilige Predigten, Mahlfeiern, Erinnerungen an Zeiten des Konfirmandenunterrichts oder gar der Christenlehre – lange her – in diesem Raum, des Zusammenseins einen Stockwerk höher – so viele Erinnerungen in Freud und Leid.
Ich predige hier zum ersten und zum letzten Mal. Aber ich bin der Gemeinde verbunden. Martin Jürges kannte ich aus seiner Zeit als Jugendpfarrer, Johannes Hermann aus unserer gemeinsamen Zeit als Studentenpfarrer.
Und ich kann die Gefühle nachempfinden. Meine eigene Heimatkirche, die Martinskirche in Darmstadt, wurde nach einer Fusion vor ein paar Jahren in „Martin-Luther-Kirche“ umbenannt. Und ich kann Ihnen sagen: schon das gab mir einen kleinen Stich im Herzen. Irgendwie ist es nicht mehr ganz meine Kirche.
Genau wie mein Vaterhaus in der gleichen Straße. Vor ein paar Jahren haben wir es verkauft. Ein ärmlicher Wohnblock in einem armen Viertel. Wenn ich jetzt manchmal daran vorbeifahre, gilt ihm ein wehmütiger Blick. Jeder, der das Haus, in dem er aufgewachsen ist, verloren hat, kennt das. Selbst, wenn das Haus dort noch steht, mein Zimmer gibt es nicht mehr.
Weil wir Menschen sind, empfinden wir so.
Von Jesus – der unsere Gefühle versteht – müssen wir uns zurechtrücken lassen. „Wer seine Hand an den Pflug legt und schaut zurück, ist nicht geschickt zum Reich Gottes.“
Nein, mit Glaube haben diese Gefühle nichts zu tun. Besinnen wir uns also auf das, was unseren Glauben ausmacht.
Jesus drückt das drastisch aus. Wer mit ihm unterwegs geht, hat kein Zuhause in festen Häusern. Der ist wie Abraham, der ist wie das Volk mit Mose unterwegs in ein anderes Land.
Wer glaubt, weiß um die Vorläufigkeit alles Lebens. So wie unser eigenes Leben endet, so zerfallen doch erst recht unsere Häuser.
Wer glaubt, weiß, dass Kirchen letztlich aus toten Steinen gebaut sind. Aber seine Kirche baut Gott aus uns, aus lebendigen Steinen.
Am Donnerstag, bei der Beerdigung eines ganz alten Gemeindemitgliedes, habe ich – wie bei jeder Beerdigung nach der Ansprache und dem Gebet vor dem Sarg die Worte aus dem Hebräerbrief gesagt, die uns als Jahreslosung durch das Neue Jahr begleiten werden:
„Wir haben hier keine bleibende Stadt – sondern die zukünftige suchen wir“
Sie passen auch hier – heute.
Und es ist vielleicht gut, dass sie, liebe Hoffnungsgemeinde mit Ihnen in das Neue Jahr hineingehen können.
Legen wir einen anderen Blick auf die Hand am Pflug. Wichtig ist ja, dass die Hand den Pflug nach vorne führt, neue Furchen gräbt. Damit neues Leben wachsen kann.
Darauf hoffen wir und daran glauben wir.
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.
Amen
Und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
4 Kommentare zu „Eine Kirche macht die Lichter aus“
http://locojustloco.wordpress.com
Sonntag, 02. Dez, 2012 @ 20:04:50
Wenn ich hier nachlese, wie viele evangelische Gottesdienststätten allein in meinem Departement entwidmet worden sind, denke ich zuerst, „ist doch nichts besonderes“. Aber… es stimmt, die Kirche, wo ich konfirmiert wurde, wurde „nur“ umgebaut, aber sie ist mir fremd geworden. Meine Eltern verkaufen gerade das Haus, wo ich aufgewachsen bin. Und in dem Haus, wo meine großen Kinder ihre ersten Schritte taten, wohnen auch fremde Leute.
Schon eigenartig.
Und plötzlich kann ich auch die ältern Leute verstehen, die mir vor Jahren erzählten, sie gingen kaum zur Kirche; die Kirche, wo sie getraut worden waren und ihre Kinder getauft und konfirmiert, sei für sie schlecht erreichbar, und die Kirche in der Nähe (die damals immerhin schon seit 40 Jahren Gemeindestatus hatte!) wäre ihnen fremd.
riverjessie
Montag, 03. Dez, 2012 @ 09:17:32
Jesus verlangte manchmal ganz schön viel. Und erklärte es nicht. Wenn Gott den Menschen mit allem ausstattete, was diesen ausmacht, dann gehören Fragen nach dem Warum dazu. Und immer wieder merke ich verstört, wie enttäuschend, wie unbegreiflich, wie unbefriedigend viele Antworten sind. Gott, Jesus, setzt quasi blindes Vertrauen voraus. DAS hat er in uns aber nicht eingepflanzt – schon kleine, unverbogene Kinder merken, dass Vertrauen in die Eltern nicht genügt, wenn ihnen etwas absurd erscheint. Indem Menschen quasi nahegelegt wird, zu neuen Ufern aufzubrechen, das Alte vielleicht sogar im Chaos zurückzulassen und mit diesem auch die Menschen, die sich daran klammern, weil sie nicht anders können, werden mehr Fragen aufgeworfen, als es dafür auch nur eine einzige gute Antworten gäbe. Die Hoffnung, dass Gott uns überallhin begleitet, vielleicht an Orte, wo man das Gefühl hat, dort wagt nicht mal er sich hin, soll uns über den Verlust des Heimatgefühls hinweghelfen?
Mir tun die Älteren und Alten leid, denen ihr Gotteshaus, ihr Wohlfühlort, genommen wird. Dass sie, wie so oft ab einem gewissen Alter, den Jungen Platz machen müssen, wirft bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten junger Menschen wieder eine Frage auf, die Gott und seine Prediger nicht beantworten können.
Ich spüre nur seine Macht und die Kraft in meinem Herzen, trotzdem an ihn zu glauben; aber manchmal schäme ich mich, etwas einfach hinzunehmen, weil mir nichts anderes übrig bleibt, als blind zu vertrauen.
Bettina Puchert (Besucher)
Donnerstag, 17. Jan, 2013 @ 11:26:15
Meine Ma ist 1946 aus Pommern aus dem Dörfchen Drosedow bei Kolberg vertrieben worden und seitdem nie wieder richtig angekommen auf der Erde…trotz mittlerweile fast 50 Jahren in eigenem Haus in Kiel. Törstlich zu wissen, dass sie die zukünftige Stadt sucht und Gott da schon ein Zimmerchen für sie bereithält!