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Wie Menschen einen prägen. Ich trauere um eine Lehrerin.

Leider habe ich kein Bild von ihr. Aber ihr Bild ist mir aus vielen, vielen Begegnungen noch deutlich in Erinnerung. Inge Volp war meine erste Religionslehrerin auf dem Gymnasium, ein Lichtblick in diesem „Gymnasium für Jungen“, in dem die meisten Lehrer – und ja, auch Lehrerinnen – noch schlugen oder irgendeine Art hatten, Kinder zu quälen.

Und zwar wirklich, nicht nur mit Aufgaben. Neben Schlägen waren verbale Demütigungen an der Tagesordnung. Und Kinder aus dem Arbeitermilieu wie ich bekamen von vielen ihre Verachtung zu spüren.

Letzte Woche ist Inge gestorben und in der nächsten Woche werden wir sie zu Grabe tragen. Nächsten Monat wäre sie 94 geworden.

Inge Volp hat mein Leben mit geprägt. Ich weiß nicht, was ohne sie, ohne ihren Mann „Carlito“ (Karl-Heinrich) und einer Handvoll anderer Menschen, die mir als Kind und Jugendlicher begegneten, geworden wäre.

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mit ihr als „Sextaner“, wie das damals hieß, und einem Klassenkameraden zusammen einkaufen war. Wir beide waren Klassensprecher und wollten ein Geschenk für unsere Klassenlehrerin besorgen – weshalb auch immer. Da wir ratlos waren, fragten wir die junge (damals 36), hübsche und lebhafte Lehrerin um Rat und sie verabredete sich mit uns vor einem Darmstädter Kunstladen (für Darmstadt-Kenner: in den ehemaligen Baracken des Mathildenplatzes, wo heute das Luisencenter steht). Eine fremde Welt für mich, ich habe noch genau das Bild der modernen und wie ich glaube schönen Vase vor Augen, die wir erstanden.

Damals wusste ich noch gar nicht, dass sie Pfarrerin ist. Das war sie auch noch nicht. Sie war nämlich verheiratet, verheiratete Frauen durften damals nicht Pfarrerin werden und auch ledige Frauen wurden nur „Vikarin“. Unsere Kirche war die erste, die die rechtliche Gleichstellung von Frauen im Pfarramt verwirklichte. das war aber erst 1971 – nach meinem Abitur.

Viele, viele Diskussionen hatte ich mit ihr. Im Unterricht und in dem kleinen theologisch-politischen Gesprächskreis mit ihr und ihrem Mann, der damals Schulpfarrer an unserer Schule war – ihn hatte ich dann auch im Unterricht.

Später hat sie bei Begegnungen jedem erzählt, die Begegnung mit mir und unserer Klasse sei eine der wichtigsten und besten Erfahrungen in ihrem Berufsleben gewesen. Und die war so:

1968 (ich Mitte 2. Reihe)

1968 (ich Mitte 2. Reihe)

 

Wir Schüler übernehmen den Unterricht

Bis in die 68er hinein nahmen praktisch alle Schüler am Religionsunterricht teil. Der Religionsunterricht, die Schulgottesdienste am Reformationstag und ab und an die „Religiösen Schulwochen“ (auch die gab es im roten Hessen) bildeten einen wichtigen Teil des Schullebens.

Dann änderte sich an unserer Schule etwas grundlegend. Wir bekamen ab der 11. Klasse „Entschuldigungsfreiheit“. Ein hessisches Modellprojekt, Vorläufer des „Kursmodells“. Man musste nicht mehr am Unterricht teilnehmen, Noten gab es nur noch auf Klassenarbeiten. Wir machten eifrig Gebrauch davon, so viel, dass der Direktor eine Schulkonferenz einberief und uns händeringend bat, doch wenigstens vor Beginn einer Stunde zu entscheiden, ob wir teilnehmen wollten oder nicht. Man müsse doch verstehen, dass es für Lehrer nicht einfach sei, wenn Schüler einfach aufstehen und gehen.

In manchen Fächern saßen nur noch ein paar Schüler zusammen, eigentlich nur die, die noch büffeln mussten. Die anderen saßen im Café Gutenberg ein paar Ecken weiter oder im „Lagerhaus“.

Anders in Reli. Unvorstellbar heute, aber da kamen wir noch hin. Wohl, weil im Prinzip der Religionsunterricht immer schon freiwillig war und die Lehrer deshalb gewohnt waren, ihn interessant zu gestalten. Hier wurde wirklich diskutiert.

Aber bei Frau Volp, wie ich sie damals noch nannte, kam das in diesem Jahr nicht wirklich in Fahrt. Ich besorgte mir Rückendeckung und meldete mich: „Frau Volp, so kann das nicht weitergehen. Uns interessiert das nicht, was Sie da machen. Wir haben beschlossen: entweder WIR übernehmen jetzt den Unterricht und sie setzen sich dazu, melden sich und diskutieren einfach mit wie die anderen – oder wir treten aus.“

Inge zögerte nicht lange. Wir überlegten uns Themen und jedes Mal hielt einer ein Referat, ein anderer leitete das Gespräch. Und Inge dikutierte mit.

Es war sicher der engagierteste Unterricht, den ich erlebt habe. Ich hielt ein Referat über einen hochtheologischen Aufsatz „Christi Gegenwart: das Kreuz“ (und fand da wohl den Hauptbezugspunkt meiner Theologie). Und die anderen fanden das interessant.

Diskussionen und Vergnügen auch in der Freizeit

Einmal in der Woche trafen wir uns bei Volps zum Diskutieren und Schwätzen. Oft bestellten sie dann eine Pizza, es gab ein Bier und heiße Ohren. Erst hieß das schuloffiziell „Arbeitskreis“, dann nannten wir uns um in „Bibelkreis“, das hatte einer gelesen aus der Geschichte der Bekennenden Kirche.

Zwei- oder dreimal sind wir mit Volps zu Tagungen der Evangelischen Akademie nach Arnoldhain gefahren. Ich erinnere an eine Schülertagung zur „Pille“ und eine Tagung zum „Neuen Deutschen Film“. Unglaublich: die 1961 „erfundene“ Anti-Baby-Pille war noch äußerst umstritten, damals nicht wegen ihrer Nebenwirkungen, sondern aus religiös-ethischen Gründen. Die Nächte diskutierten und soffen wir.

Volps unterstützen mich, wo sie konnten. Beide Volps waren ein paarmal bei uns zuhause, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass. Sie müssen wissen: das klingt hier jetzt alles nach einem guten und engagierten Schüler. Das Gegenteil war der Fall. Ich war so schüchtern, dass ich praktisch nie etwas im Unterricht sagte. Ich traute mich einfach nicht. Ich bin einmal sitzen geblieben und nur mit Mühe (mit drei Fünfen in Hauptfächern der Vornoten!!!) durchs Abitur gekommen.

Aber Volps mochten mich und haben wohl sehr schnell Stärken in mir erkannt. Vor der vollbesetzen Kirche durfte ich 1969 die Ansprache zur Weihnachtsfeier halten. Als Schüler! Natürlich waren manche Eltern entsetzt über das „Von wegen Frieden auf Erden“.

Weil ich immer wenig Geld hatte, vermittelten sie mir einen Nachhilfeschüler. Immerhin: mein Deutsch war so gut, dass ich jüngeren Gymnasiasten Grammatik und Rechtschreibung beibringen konnte.

Bei Volps konnte ich immer vor der Tür stehen, sie freuten sich – auch wenn sie manchmal wohl überrascht waren. Außer ihrer Wohnung in Darmstadt und später dann in Offenbach hatten sie ein Häuschen in Lindenfels im Odenwald, in das sie nach dem Ruhestand auch gezogen sind. Auch dort war ich oft zu Gast, wenn ich im Freizeitenheim der Stadt Darmstadt Betreuer bei Freizeiten war. Im Hof sind wir lachend Stelzen gelaufen.

Noch als Student und Vikar bin ich abends ab und zu in Offenbach bei ihnen vorbeigefahren, klingelte einfach und stand da. fand offene Türen, ein Glas Wein und tolle Gespräche.

Ihre beiden schon immer bildhübschen Töchter „Püppi“ Isabell und „Fränzi“ Franziska (was für schöne Namen für die damalige Zeit) habe ich aufwachsen sehen. Hinterher lachten wir ab und zu, wie Carlito am Darmstädter Oberwaldhaus verzweifelt rumlief „Hat jemand hier eine kleine Isabell gesehen?“.

Zuletzt traf ich Inge bei einer Feier zum 60jährigen „Jubiläum“ der Frauenordination. Wir verabredeten natürlich schnelles Wiedersehen, daraus ist nie etwas geworden. Im letzten Jahr ist Carlito gestorben und ich habe erst nach der Trauerfeier davon erfahren, Inge einen langen Brief geschrieben und wollte wieder vorbeikommen.

In meinem Alter sollte man das auch tun und nicht nur schreiben.

+++

Kinder, wie ich eins war – und vielleicht jedes Kind – , brauchen solche Menschen, die „von außen“ in ihr Leben treten, etwas in ihnen sehen, was werden kann, sie unterstützen und ihnen etwas vorleben.

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