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Gutes Wort, böse Tat

In einem edelmännischen Dorf

trifft ein Bauer den Herrn Schulmeister im Felde an.

„Ists noch euer Ernst, Schulmeister, was ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar?“

Der Herr Schulmeister sagt: „Ich kann nichts davon und nichts dazu thun. Es steht im Evangelium.“

Also gab ihm der Bauer eine Ohrfeige,

und die andere auch, denn er hatte schon lang einen Verdruß auf ihn.

Indem reitet in einiger Entfernung der Edelmann vorbey und sein Jäger. „Schau doch nach, Joseph, was die zwey dort mit einander haben.“

Als der Joseph kommt, gibt der Schulmeister, der ein starker Mann war, dem Bauer auch zwey Ohrfeigen,

und sagte, es steht auch geschrieben: „Mit welcherley Maas ihr messet, wird euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maas wird man in euern Schoß geben;“

und zu dem letzten Sprüchlein gab er ihm noch ein halbes Duzend drein.

Da kam der Joseph zu seinem Herrn zurück und sagte:

„Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die heilige Schrift aus.“

Merke: Man muß die heilige Schrift nicht auslegen, wenn mans nicht versteht, am allerwenigsten so.

Denn der Edelmann ließ den Bauern noch selbige Nacht in den Thurm werfen auf 6 Tage, und dem Herrn Schulmeister, der mehr Verstand und Respect vor der Bibel hätte haben sollen, gab er, als die Winterschule ein Ende hatte, den Abschied.

Johann Peter Hebel: Gutes Wort, böse That
Das Schatzkästlein des Rheinische Hausfreunds, 1811

Johann Peter Hebel, evangelischer Theologe, Dichter und Pädagoge wurde heute, am 10. Mai, vor 250 Jahren geboren.

Auf dem Blog meines Kollegen Alexander Ebel gibt es einige schön vorgetragene Texte von Hebel zu hören, zum Beispiel

„Die drei Wünsche“

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5 Kommentare

  1. Alexander Ebel 17. Mai 2010

    Vielen Dank für den Link auf meinen Vorlese-Podcast!
    Ob ich es schaffe, ihn – nach langer Zeit – noch im Hebeljahr wiederzubeleben?

  2. Bogies 10. Mai 2010

    Da bin ich doch froh, dass unser Strafrecht weitestgehend frei von Einflüssen der Obrigkeit ist, und frei nach Recht und Gesetz für Jedermann urteilen darf. Der Edelmann hätte allenfalls seinen Auftritt als Zeuge, nein, eher sein Jäger wäre der Hauptzeuge!
    Das Beispiel „Gutes Wort, böse Tat“ passt wunderbar in die aktuell geführte Diskussion zum Thema Gewalt in Kirchen und Schulen, Missbrauch mit Abhängigen.

  3. Loco_just_Loco 10. Mai 2010

    Nun – sie haben sich beide an die falsche Stelle gesetzt in den Christusworten und sich als Richter aufgespielt, wo sie was hätten lernen sollen.
    Die Strafe dafür war vielleicht zu hart…

    Hat Hebel nicht auch die Fabel vom Kannitverstan geschrieben?

    heißt der Kollege Alfred oder Alexander?

  4. etoile-filante 10. Mai 2010

    …ein kluger und humorvoller schweizer schreiberling 🙂

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